Klettern

Abschied von den Besten

Sie bauten Brücken zwischen modernem und traditionellem Alpinismus. Sie waren Kreativköpfe und Lichtgestalten des internationalen Klettersports. Hansjörg Auer (35) und David Lama (28) begeisterten beim Ötztaler Klettercamp auch Hobbykletterer, coachten und inspirierten sie. Mitte April sind sie und ihr Seilpartner Jess Roskelley (36) bei einem Lawinenunglück in den kanadischen Rocky Mountains ums Leben gekommen. Gedanken zum Gedenken.

Prolog

Was du für den Gipfel hältst, ist nur eine Stufe.“

(Seneca, römischer Dichter und Philosoph)

Nach dem Begräbnis von Hansjörg Auer meinte ein Kletterkollege: „Stell dir vor, die beiden klettern jetzt immer weiter und glücklich in den Himmel, bis einer von ihnen einen Standplatz baut und zu uns herunterruft: ‚Nachkommen!’“

Die Unendlichkeit des Seins und die Endlichkeit des Lebens

Hansjörg Auer vor altem Holzhaus - Abschied von den Besten
Hansjörg Auer vor seinem Elternhaus in Umhausen © Christian Penning

Hansjörg Auer, David Lama und Jess Roskelley sind am Berg in Welten vorgedrungen, die für die meisten von uns unerreichbar bleiben werden. Ihre Leistungen lassen sich begreifbar in Zahlen und Schwierigkeitsgrade fassen. Doch alle drei waren außergewöhnliche Persönlichkeiten, die unendlich inspiriert haben. Durch ihr Tun, durch ihre Vorstellungskraft, die kaum Grenzen kannte und durch ihre zutiefst menschliche und sympathische Art. Die Reise, die sie nun angetreten haben, werden wir wohl erst verstehen, wenn wir ihnen selbst irgendwann folgen.

„Es ist schwer in Worte zu fassen, was ein solches Ereignis in uns auslöst“, sagt der Ötztaler Heiko Wilhelm, ein enger Freund Hansjörg Auers und Geschäftsführer des Kletterverbands Österreich, „Man versucht zu verstehen und bleibt dennoch ratlos.“ Was der Tod eines engen Freundes und Kletterpartners bedeutet, wusste Hansjörg Auer selbst nur zu gut. 2015 kehrte er von der Expedition am Nilgiri South ohne seinen Freund Gerry Fiegl nach Hause. Der war am Berg geblieben – für immer.

An einem ruhigen Ort im Ötztal hat Hansjörgs Bruder Matthias mit einem Freund ein kleines Denkmal für Gerry errichtet. Dort vertraute Hansjörg dem Autor dieser Zeilen vor einer Weile an: „Es gibt immer noch Momente, in denen ich weinen muss. Das kann beim Autofahren sein. Da denke ich mir: Wo ist er denn? Aber es ist nun mal passiert. Ein Trost, er hat ein intensives Leben gehabt.“ Der Tod hinterlässt Lücken, Leere, Fragezeichen. Doch Hansjörg durfte auch erfahren: „Die Traurigkeit legt sich, wenn du deiner Leidenschaft wieder nachgehst.“

Hansjörg Auer beim Eisklettern nahe Längenfeld - Abschied von den Besten
Hansjörg Auer beim Eisklettern bei Längenfeld © Ötztal Tourismus / Elias Holzknecht

Auf der Suche nach einem erfüllten Leben

Vielleicht ist genau das Hansjörgs Vermächtnis. Das Vermächtnis, sich auf das zu besinnen, was ein erfülltes Leben ausmacht. Für ihn und David Lama waren das die Berge. „Klettern und Bergsteigen im Grenzbereich ist kein Spiel ohne Risiko – aber eines ohne das ich nicht leben kann“, hatte Hansjörg für sich entschieden.

„Ich will etwas tun, das mich fordert. Ganz oder gar nicht. Je intensiver, umso mehr bekomme ich retour und umso mehr spüre ich, dass ich auf dem richtigen Weg bin.“ „Klettern ist mehr als nur ein Sport“, brachte es David Lama in seiner analytischen Art auf den Punkt: „Draußen zu sein in der Natur, am Fels, das ist eine Lebenseinstellung.“

Der Ötztaler Bergführer und Ausbilder Markus „Mäx“ Morandell hat beide seit ihrer Jugend gekannt. „Bei der Siegerehrung hat er nur auf die hohen Berge geschaut. In Gedanken war er schon auf der Dru“, erinnert er sich an einen von Davids letzten Sportkletter-Worldcups in Chamonix. „Er ist extrem frech an die Berge rangegangen – seine großartige Klettertechnik hat ihm Vertrauen gegeben. Gleichzeit war er einer, der sich extrem fokussieren konnte, in allen Bereichen seines Lebens. Mit 17 hat David die Schule geschmissen. Er wusste genau: Sein Lebensweg führt an keine Uni, in kein Büro. Er führt hinaus in die Natur, in die Berge.“

Schicksal, Risiko und Lebensstil

David Lama beim Klettern in Nösslach - Abschied von den Besten
David Lama im Jahr 2010 beim Klettern in Nösslach/Längenfeld © Ötztal Tourismus / Heiko Wilhelm

Derart gestimmten Menschen sind riskante Situationen näher als dem Rest der Sterblichen. „Das Schicksal herausgefordert?“ – Solche Fragen, solche Überlegungen sind nach Unglücken im Alpinismus legitim. Steht uns deshalb ein Urteil zu? Es ist unmöglich, die Risiken objektiv zu messen, zu beurteilen. Keiner von uns weiß mit Bestimmtheit, wie oft er selbst schon um Haaresbreite an einer Katastrophe vorbei geschrammt ist – am Berg wie im Alltag. „David und Hansjörg wussten, wie man sich in Risikozonen bewegt, hatten ein Gespür dafür“, sagt „Mäx“ Morandell. Sie suchten und fanden Lösungen. „Trotzdem macht man sich Gedanken – als Freund, als Kollege …“, überlegt er. „Immer wieder war da dieses Gefühl, diese Frage: Wie lange geht das gut?“ Je häufiger man sich dem sogenannten Restrisiko aussetzt, desto wahrscheinlicher ist es, dass …! Natürlich gab es sie, die Gespräche darüber. „Aber Klettern, wie es die Verunglückten betrieben, ist ein Lebensstil. Den kannst Du nicht so einfach ablegen“, weiß Morandell.

Mitreissende Kletterleidenschaft

Hansjörg Auer beim Sichern während des Ötztaler Klettercamps - Abschied von den Besten
Coach und Motivator – Hansjörg Auer beim Ötztaler Klettercamp 2018 in Nösslach © Christian Penning

Genau dieser Lebensstil ist es, mit dem David und Hansjörg zahllose Kletterer und auch weniger bergaffine Menschen inspiriert haben – nicht zuletzt auch als Coaches beim Ötztaler Klettercamp. Zehn Jahre lang war Hansjörg Auer die Leitfigur dieses Events für Hobbykletterer. Sein Wissen, sein Können, seine Tricks gab er in Workshops an Felsnovizen und ambitionierte Freizeitkletterer weiter – mit der gleichen Leidenschaft, mit der er selbst auf Berge stieg. „Einfühlsam und kommunikativ – seine Ausstrahlung machte ihn zum perfekten Trainer“, sagt „Mäx“, der mit ihm die Camps geleitet hat. „Mit seiner offenen und unkomplizierten Art hat er vielen die Angst vor kleinen Griffen und dem ersten Überhang genommen. Er war ein Meister darin, sich in seine Schüler hinein zu fühlen, ihnen zu zeigen, wie man Grenzen verschiebt – auch auf Einsteigerniveau.“

Ausrufezeichen an den Bergen der Welt

Hansjörg Auer, David Lama und der Amerikaner Jess Roskelley waren Alpinisten und Kletterer der Weltelite. David Lama galt schon als Jugendlicher als Wunderkind des Kletterns, zählte zur absoluten Weltspitze und setzte anschließend im alpinen Klettern Ausrufezeichen – bei der ersten Begehung der Kompressorroute (IX+/X-) am Cerro Torre ohne künstliche Hilfsmittel (2012) genauso wie im vergangenen Jahr bei seiner Solo-Erstbesteigung des Lunag Ri (6895 m) in Nepal. Hansjörg Auer war nach seiner Free-Solo-Begehung der Route „Weg durch den Fisch“ (IX-) in der Marmolada-Südwand schlagartig weltbekannt und zählte in den vergangen Jahren zu den besten Höhenbergsteigern der Welt. In die Höhen des Himalaya zog es auch Jess Roskelley. Er war 2003 der jüngste Bergsteiger, der bis dahin den Gipfel des Mount Everest bezwungen hatte. Neben ihren unvergesslichen Projekten an den Bergen der Welt haben Hansjörg Auer und David Lama als gebürtige Tiroler den einheimischen Klettersport als Vorbilder und Trainer geprägt und dem Nachwuchs wichtige Impulse gegeben.

Tanzen in der Wand

Klettern ist kein Kraftsport. Klettern ist Gefühl. Das Leichte, Elegante, Tänzelnde ist es, was das Klettern ausmacht. Dafür wollte Hansjörg in den Klettercamps die Sinne schärfen.

„Mit seiner Erfahrung von den Freesolo-Projekten war er dafür prädestiniert“, meint „Mäx“ Morandell. „Gefühlvoll antreten, mit dem Fels verschmelzen, im Gleichgewicht bleiben, leichte, fließende Bewegungen: Es war einfach schön, Hansjörg beim Klettern zuzuschauen.“

Hansjörg Auer beim Klettern während des Ötztaler Klettercamps - Abschied von den Besten
Coach Hansjörg Auer beim Unterricht im Ötztaler Klettercamp © Ötztal Tourismus / Lukas Ennemoser

Klettern gelernt zu haben, war für Hansjörg Auer eines der größten Geschenke. Dieses Geschenk wollte er auch weitergeben. War er zuhause im Ötztal, nahm er sich regelmäßig Zeit für Trainingseinheiten mit einheimischen Kids. „Er betreute über viele Jahre Klettergruppen des Alpenvereins im Ötztal und versuchte dadurch seine Leidenschaft jungen Menschen weiterzugeben. „Für die Kletterszene im Ötztal war er nicht nur Vorbild und Kletterpartner, sondern auch Freund und Inspiration“, fasst es Heiko Wilhelm stellvertretend für alle zusammen. „Vielen jungen Alpinistinnen und Alpinisten gab er ein Stück wertvoller Erfahrungen weiter und wirkte als Vorbild und Mentor – als Mensch und als Bergsteiger.“

Triebfedern der Kletterszene

Portrait Hansjörg Auer hinter Strauch - Abschied von den Besten
Fokusiert und feinfühlig – für die Ötztaler Kletterszene ist der Tod Hansjörg Auers auch menschlich ein Verlust © Christian Penning

„Für viele mag Hansjörg einer der besten und beeindruckendsten Alpinisten der Gegenwart gewesen sein“, überlegt Heiko. „Wir in der Ötztaler Szene haben mit Hensn, wie wir ihn nannten, einen besten Freund verloren, der uns vor allem durch seine offene und herzliche Art geprägt hat.“

So feinfühlig wie im Umgang mit dem Fels war Hansjörg als Mensch. „Einer mit sehr feinen Antennen, sehr sensibel“, sagt „Mäx“ Morandell. „Profi zu sein war für ihn Mittel zum Zweck, seiner Leidenschaft nachzugehen, nicht um sich selbst im Rampenlicht zu positionieren.“ Hansjörg war es wichtig, nichts zu überhöhen, schon gar nicht sich selbst. Wenn er Vorträge über seine Expeditionen und Projekte hielt, dann nicht um sich im eigenen Glanz zu sonnen, sondern um uns eine Vorstellung zu geben von seiner Welt. Um uns zu motivieren – und sei es nur zu einem Spaziergang mit Blick auf die Berge. „Er war immer bescheiden, hat nie viel Wind um seine Leistungen gemacht: Ein Zeichen wahrer Größe“, sagt die aus dem Ötztal stammende ehemalige Wettkampfkletterin Katharina Bacher.

Hansjörg Auer beim Eisklettern - Abschied von den Besten
Hansjörg Auer geht in Längenfeld eisige Wände hoch © Ötztal Tourismus / Elias Holzknecht

Raue Berge prägen feine Charaktere

„Er war ein offener Mensch, sehr bemüht um seine Freunde, zielstrebig, konsequent, ehrlich und auch direkt“, blickt Heiko Wilhelm zurück. „Hansjörg war ein Mensch, der jeden Moment seines Lebens mit einer Intensität und Leidenschaft gelebt hat, die sehr beeindruckend war.“

Dabei waren seine Familie, seine Freundin und seine Freunde ein wichtiger Teil in seinem Leben. Gute Gespräche mit guten Freunden im Basislager waren Hansjörg genauso wichtig wie der Gipfel.

Über David Lama sagt sein ehemaliger Trainer und langjähriger Freund Reini Scherer: „Er war ein ‚gerader Michl’ und hat die Dinge immer beim Namen genannt. David wollte in seiner Botschaft nie missverstanden werden und achtete sehr darauf, das zu sagen, was er dachte. Bevor er geredet hat, war immer eine Pause zu hören. Immer war er auch darauf bedacht, mit seinen Worten niemanden zu verletzen.“

Begeistert und begeisternd leben

David Lama beim Klettern in Längenfeld - Abschied von den Besten
David Lama in sehr jungen Jahren – eine Kletteraufnahme von 2007 in Längenfeld © Ötztal Tourismus

In einem waren Hansjörg und David unbestreitbar Vorbilder: Darin, ein erfülltes und selbstbestimmtes Leben zu führen, zu 100 Prozent. Das ist das Vermächtnis, das uns die beiden während ihrer Reise auf dieser Welt hinterlassen haben. Sie haben uns gezeigt, wie ihr Weg aussieht. Unseren müssen wir selbst finden. Führen wir ein erfülltes Leben! Nicht von Angst, nicht von Trauer. Sondern erfüllt von dem, was uns begeistert und davon, womit wir andere begeistern können. Gerade darin sind uns Hansjörg, David und Jess vorausgegangen.

Epilog

Mit seinem kurzen intensiven Dasein auf Erden zeigte er, wie menschliches Leben gelingen kann: glücklich und frei gelebt, kraftvoll und mutig den Weg gegangen, große Träume geträumt, große Ziele gewagt.
„Nicht wird er geboren noch stirbt er je. Ungeboren, ewig, ununterbrochen bleibend, uralt, wird er nicht getötet, wenn der Körper getötet wird.’ (Bhagavad Gita 2:20)“

Eine Trauernde im Kondolenzbuch auf David Lamas Website

Zitate:

„Einer mit sehr feinen Antennen, sehr sensibel. Profi zu sein war für Hansjörg Auer Mittel zum Zweck, um seiner Leidenschaft nachzugehen, nicht um sich selbst im Rampenlicht zu positionieren. Als Kletter-Coach war er enorm einfühlsam und kommunikativ – seine Ausstrahlung machte ihn zum perfekten Trainer.“

Mäx Morandell, Bergführer, Leiter Ötztaler Klettercamp

Bergführer Mäx Morandell - Abschied von den Besten
© Christian Penning
Heiko Wilhelm und Hansjörg Auer - Abschied von den Besten
© Privat / Heiko Wilhelm
„Hansjörg war bei allen in der Szene sehr willkommen und für viele auch ein sehr guter Freund. Ein Freund mit dem man nicht nur in den Bergen oder im Klettergarten unterwegs war sondern mit dem vor allem die Momente jenseits des Sports bedeutsam waren.“

Heiko Wilhelm, Geschäftsführer Kletterverband Österreich, stellvertretend für die Ötztaler Kletterszene

„Wenn man für etwas brennt, sollte man seine Leidenschaft auch ausleben. Hansjörg war dafür ein großartiges Beispiel. Trotz seiner Leistungen ist er beeindruckend bodenständig geblieben.“

Katharina Bacher, ehemalige Wettkampfkletterin

Katharina Bacher - Abschied von den Besten
© Heiko Wilhelm
Gastautor Christian Penning - Abschied von den Besten
© Jacob Slot

Gastautor Christian Penning

Der Autor arbeitet als freier Journalist und Fotograf regelmäßig für namhafte Outdoor- und Bergsport-Magazine. 2018 veröffentlichte das Magazin „Allmountain“ eine große Homestory über Hansjörg Auer, für die Christian zwei Tage lang mit ihm im Ötztal unterwegs war.

(Titelbild: © Christian Penning/ © Heiko Wilhelm)

ÖTZTAL MAGAZIN

Christian Penning nahm 2018 an einem Ötztaler Klettercamp mit Hansjörg Auer teil. Die Text- und Fotoreportage „Tanzen in der Wand“ über seine Erlebnisse und seine Begegnung mit Hansjörg Auer als Trainer im Camp kannst Du im Ötztal Magazin 2019 lesen. Das Printmagazin mit den aktuellsten und interessantesten Geschichten zur Ötztaler Frühlings-, Sommer- und Herbstsaison erhältst du in den Sprachen DE/EN/NL kostenlos in allen Informationen des Ötztal Tourismus. Unter der Adresse www.oetztal.com kannst du es bestellen und dir frei Haus zustellen lassen oder als Blätterkatalog betrachten.

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... verschiedene Gastautoren berichten über ihre Erfahrungen im Ötztal.

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