Wissenswertes
Die Sommerfrische der Schafe
Jeden Juni kommen rund 4000 Schafe aus dem Südtiroler Schnalstal in zwei großen Zügen über die Jöcher der Ötztaler Alpen auf die saftigen Hochweiden von Vent im Ötztal, und das schon seit 6000 Jahren. Ihr Oberhirte gibt Einblicke ins sommerliche Herden- und Hirtenleben zwischen Niedertal und Rofental.
Mühsam ist der Aufstieg zu den Sommerweiden.
© Dagmar Gehm / Ötztal Tourismus
Schafwandern durch alle Wetter
Gefährlich steile Serpentinen entlang schroffer Abhänge. Das Gletschereis des Similaunfernes. Das alles müssen 2000 Südtiroler Schafe mit Elmar Horrer als Chefhirten überwinden, wenn sie jeden Juni von Vernagt im Schnalstal aus aufbrechen zu den saftigen Ötztaler Sommerweiden im Nordtiroler Niedertal bei Vent.
Die Alpenüberquerung im Frühsommer ist viel härter und dauert länger als die Heimkehr im September. Elmar und seine Helfer müssen Schneeschaufeln, manchmal sogar Spuren trampeln, damit die Tiere vorankommen.
Rekordverdächtige Megaherde
Bevor sich der Herdenführer von Vernagt aus aufmacht zur Überquerung des Alpenhauptkamms am Niederjoch, hat er bereits einen zwölfstündigen Marsch mit eine Gruppe Vinschgauer Schafe hinter sich, die er von Laas über das Taschenjöchl nach Vernagt getrieben hat, um sie mit den Tieren anderer Schafbauern zum rekordverdächtig großen Tross zu vereinen.
Noch vor Tag und Tau geht es am nächsten Morgen hinauf Richtung Niederjoch. Noch sind die Hütten geschlossen, Wasser spenden nur die Gebirgsbäche. In drei, vier Gruppen steigen die Treiber auf bis zur Similaunhütte. An der Martin-Busch-Hütte werden die ersten Schafe in die große Freiheit des Almsommers entlassen, die nächsten dann an der alten Schäferhütte und die letzten an der neuen.
Am Eis teilt sich der Tross der Sommerfrischler.
© Dagmar Gehm / Ötztal Tourismus
Drei Monate lang lassen sich Tiroler Bergschaf, Schwarznasenschaf oder das Tiroler Steinschaf in voller Freiheit das Höhenaroma von Gräsern, Kräutern und Wildblumen schmecken.
Hüter und Hund leiten tausende Schafe.
© Dagmar Gehm / Ötztal Tourismus
Hüter mit Stab, Hut und Hund
Die dreimonatige Sommerfrische der Schafe beaufsichtigt heutzutage ein einziger Hirte. Der Steckbrief des Südtirolers Elmar Horrer: Chefschäfer. Oberhirte. Gern auch Chefstratege. Auf jeden Fall Leiter des Schafübertriebs. Besondere Kennzeichen: Sonnengebräuntes Gesicht, langer Hirtenstab, Filzhut, blaue Schürze.
Sprache: Reinster Vinschgauer Dialekt. Gibt sich Mühe, mit Nicht-Älplern Hochdeutsch zu sprechen. Herkunft: Laas im Vinschgau, wo besonders harte Männer besonders harten Marmor gewinnen. Alter? Chef(schäfer)sache. Begleitung: Hirtenhund Aiko, zwei Jahre alt, schwarzes Fell, Australian Shephard.
Grenzenlos gute Nachbarschaft
Elmar ist der freundschaftliche Umgang mit den Ötztaler Nachbarn im Bergdorf Vent wichtig: „Manchmal unterbricht Markus Pirpamer, der die Similaunhütte betreibt, einen Materialtransport, um mein tristes Leben als Schäfer zu beleben“, flachst er, „und auch der Jäger schaut hin und wieder vorbei.“ Häufig macht sich der „einsame Hirte“ auf zu den Rofenhöfen, um nach Schafen zu schauen, die rund um die älteste Siedlung Tirols grasen.
Manchmal fährt Elmar nach Sölden, um im Supermarkt Vorräte aufzustocken. Dann kehrt er unterwegs ein im Hotel Alt Vent bei Michael und Ilse Scheiber, die mit Sohn Lukas viele Jahre lang die Martin-Busch-Hütte (mit ihrem Extra-Raum für Südtiroler Hirten) bewirtschaftet haben. Dort trinkt er gern ein Glasl Roten mit dem Seniorchef, Michaels knorrigem Vater Hansl.
Hirte und Schafe schätzen die Rofenhöfe bei Vent.
© Bernd Ritschel / Ötztal Tourismus
Die neue Schäferhütte ist komfortabler als die alte.
© Isidor Nösig / Ötztal Tourismus
Bescheidene Schäferstündchen
Ein bisschen komfortabler hat es Elmar heutzutage, denn er muss den Sommer nicht mehr in der alten Schäferhütte verbringen, ohne Elektrizität, ohne fließendes Wasser. Doch auch in der geräumigen neuen Schäferhütte, die näher an Vent liegt als die alte, gibt es kaum Abwechslung. Fernsehen oder Radio? Fehlanzeige.
„Manchmal lese ich Zeitung, sofern ich mir am Einkaufstag eine geholt habe, oder ein Buch. Das Handy funktioniert nur am Küchenfenster“, sagt Elmar. „Doch meistens bin ich eh so müde, dass ich schon auf der Ofenbank einschlafe“. Der Menüplan des Junggesellen auf Zeit ist einfach: „Nudeln, Nudeln, Nudeln.“ Abwechslung ins Singleleben und auf den Speisezettel bringen die seltenen Besuche seiner Frau.
Das Fernglas ist der Radar
Jeden Morgen um halb sechs Uhr heißt es für Elmar: Raus aus den Federn! „Alles, was du in der Früh machst, ist getan“, weiß der erfahrene Hirte. „In der Früh sieht man auch die Schafe leichter. Weil sie dann aufstehen und fressen. Am Nachmittag suchen sie Schatten hinter und unter den Steinen, dann findet man sie kaum noch.“
Mit dem Fernglas im Anschlag Schafe suchen, verletzte Tiere versorgen, Salzstellen neu befüllen – so geht das tagein tagaus. Auf einem Areal von rund 6.000 Hektar. Wie viele Male der Hirte mit Hund Aiko die Almen hinauf und hinter läuft, weiß er nicht zu zählen.
Ferngläser und Spürnase sind auf Schafsuche.
© Dagmar Gehm / Ötztal Tourismus
Künstler bespielen das herbstliche Venter Wandertheater.
© Ernst Lorenzi / Ötztal Tourismus
Alles ein großes Wandertheater
Im September inszeniert der Regisseur Hubert Lepka in Vent das historische Wandertheater „Friedl mit der leeren Tasche“. An den Spiel- und Wandertagen kreuzen Schauspieler in historischen Kostümen und ihr Publikum Elmars Weg. Hirte, Hund und Schafe werden unvermittelt willkommene Statisten der Freilichtinszenierung.
Doch es dauert nur mehr wenige Tage, dann wird Elmar selbst zum Regisseur. Befehligt eine Truppe von 20 Treibern mit Hunden, die 2000 sommerfrischengestärkte und freiheitsversessene Schafe von den Hängen herunter holen und bei der Martin-Busch-Hütte versammeln müssen.
Danach dirigiert und akkordiert der Oberhirte das großartige Schauspiel der geordneten Heimkehr der Schafe. Lampenfieber, bei so viel Mitspielern und so viel erwartungsfrohem Wanderer-Publikum? Klar. Aber nur, bis der Tross sich endlich in Gang gesetzt hat.
(Titelbild: © Dagmar Gehm)
Facts
Es gibt zwei große Übertriebe mit insgesamt knapp 4.000 Schafen vom Schnalstal (Südtirol) ins Ötztal (Tirol) und zurück nach Südtirol. Dieser Blog handelt von jenem, der am 10. Juni 2017 im Schnalstaler Dorf Vernagt am See startet und rund 2000 Tiere über das Niederjoch (3019 m) ins Ötztal führt, zur Niedertal Alm bei Vent. Am 9. September führt dieser Schaftrieb die Herde wieder zurück nach Südtirol.
Der zweite Übertrieb startet in Kurzras, ebenfalls am 10. Juni. Er führt ca. 1500 Schafe über das Hochjoch (2770 m) zur Rofenberg Alm im Rofental bei Vent. Zurück ins Schnalstal geht es am 10. September.
Es gibt im gleichen Zeitraum auch noch einen dritten Schaftrieb von Südtirol ins Tiroler Ötztal. Schafe aus dem Passeiertal erreichen über das Timmelsjoch (2509 m) ihre Weiden oberhalb von Obergurgl.
Die Tradition des Schafwandertriebs, auch Transhumanz genannt, ist wahrscheinlich schon 6000 Jahre alt. Die Ureinwohner der Alpen führten ihre Herden im Sommer von der trockenen und dürren Südseite an die Nordseite der Alpen mit ihren saftigeren Weidegründen. Schriftlich überliefert sind die Weiden der Schnalstaler, Passeiertaler und Vinschgauer Bauern im Ötztal seit dem Mittelalter. Aus heutiger Sicht ist die Ötztaler Transhumanz eine so einzigartige Überlieferung, dass sie seit 2011 im Nationalen UNESCO-Verzeichnis des immateriellen Kulturerbes Österreichs steht.
Wissenswertes über den Schaftrieb im Ötztal findest du auch unter folgenden Links:
Gastautorin Dagmar Gehm
Die Hamburger Journalistin und sportliche Globetrotterin ist langjähriger Fan des Ötztals, weil sie sich der Faszination der Kontraste nicht entziehen kann:
- Action – Abgeschiedenheit,
- Rausch der Geschwindigkeit – Relaxen in der Ruhe,
- uralte Rituale – am Puls der Zeit.
Weitere Beiträge von Dagmar Gehm:
Gastautorin Dagmar Gehm © Zhengrong Liu
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