Wandern

Die Schönheit schmilzt dahin

Seit Beginn der 1980er Jahre ist viel Wasser die Berge hinuntergeflossen. Zu viel? Unser Autor und Fotograf beobachtet den Rückgang der Gletscher von Anfang an. Hier seine Gedanken beim Anblick des stetig schwindenden Eises.

Über den Taschachferner zur Wildspitze

Wildspitze mit See im Vordergrund - Ötztaler Gletscher
© Bernd Ritschel

Straff spannt sich das Seil zwischen meinen Gefährten Andi, Tobi und mir. Gleichmäßig steigen wir bergan, der Höhenmesser zeigt bereits 3.200 m an. Aber ein paar dunkle Löcher im Schnee mahnen zur Vorsicht. Unmissverständlich machen sie uns klar, dass direkt unter der dünnen Firnauflage gähnend tiefe Gletscherspalten lauern. Niemand weiß, wie tief sie sind: 50 m sind es ganz sicher bis auf ihren Grund, manche sind vielleicht sogar 70 oder 80 m tief. Aber noch trägt der Schnee gut, noch ist es kalt hier im Schatten des Schuchtkogels.

Am Taschachferner - Ötztaler Gletscher
© Bernd Ritschel

Ewig schön und schwer vergänglich

Wenig später beginnt der Schnee vor mir zu glitzern, intuitiv blicke ich auf von der Spur und sehe, wie die Eistürme zu meiner Rechten in allen Weiß-, Blau- und Türkistönen leuchten. Über uns glitzert die riesige Eisnase unter der Wildspitze im Gegenlicht.

Die Sonne hat sich gleißend über einen gezackten Grat geschoben. Mein Gott, was für eine Landschaft! Das Eis um mich herum beginnt zu leben, es knistert und kracht – der Taschachferner zieht mich in seinen Bann. Schönheit für die Ewigkeit – und doch so erschreckend vergänglich.

„Wann wird‘s mal wieder richtig Sommer?“

Gletscherzunge Taschachferner - Ötztaler Gletscher
© Bernd Ritschel

Als Rudi Carell mit seinem frechen holländischen Akzent dieses Lied trällerte, schrieb man das Jahr 1975. Damals ahnte niemand, dass genau diese 1960er und 1970er Jahre mit viel Schlechtwetter, niedrigen Temperaturen und ergiebigen Schneefällen für ein letztes Gletscherwachstum in den Alpen sorgen sollten. Der Klimawandel mit seinen mittlerweile erschreckend schnell steigenden Temperaturen lag für Rudi Carell noch in weiter Ferne.

Grandiose Verhältnisse im steilen Eis

Als dann Anfang der 1980er Jahre die Sommer endlich besser wurden, profitierten die Bergsteiger von grandiosen Verhältnissen. Die Akkumulation, d.h. der Massezuwachs auf den Gletschern und auch in Eiswänden, machte so manche hochalpine Tour leichter und auch sicherer. Motiviert bis in die Haarspitzen, konnten wir zu dieser Zeit bei besten Firn- und Eisverhältnissen Nordwände wie die der Mutmalspitze, des Similaun oder der Wildspitze durchsteigen – und das ohne jede Felsberührung.

Wenn ich heute zur Martin-Busch-Hütte wandere und in die graubraunen Schuttfelder der Similaun- Nordwand blicke, könnte ich heulen. Nur ein letzter kleiner Eisfleck im zentralen Wandbereich kämpft tapfer ums Überleben. Aber auch seine Tage sind gezählt.

Duo im ewigen Eis - Ötztaler Gletscher
© Bernd Ritschel / Ötztal Tourismus

Die Gletscher ziehen sich zurück

Duo am Grat im hinteren Ötztal - Ötztaler Gletscher
© Bernd Ritschel / Ötztal Tourismus

Emotionsgeladen versuche ich Tobi und Andi den Längenverlust des Taschachferner darzustellen. „Schaut, als ich das letzte Mal hier war, reichte das Eis noch bis zu diesen Gletscherschliffplatten. Jetzt sind schon wieder über 100 m der Gletscherzunge abgeschmolzen – einfach weg, durch Regen, durch die Hitze und die Sonneneinstrahlung. Bald wird hier gar kein Eis mehr sein“. Die beiden verstehen natürlich meine Traurigkeit, meine Wehmut. Doch gleichzeitig sind sie noch immer beeindruckt von der Magie und Größe dieses Gletschers. Sie kennen ihn ja nicht anders. Noch immer ist er über 5 km lang, noch immer gut 6 Quadratkilometer groß und noch immer, weit oben auf über 3.000 m, bis zu 100 m dick.

Steigeisen bohren sich ins ewige Eis - Ötztaler Gletscher
© Bernd Ritschel / Ötztal Tourismus

Im Wechselbad der Gefühle

Als wir wenig später die Steigeisen anlegen, betrete ich das Eis vorsichtiger als gewohnt, so als wollte ich ihm nicht wehtun. Allerdings dringen die messerscharf geschliffenen Zacken der Steigeisen tief ins viel zu weiche Eis ein. Meine Gedanken kreisen um die Touren meiner Jugend und um meine Hilflosigkeit gegenüber der Klimaerwärmung.

Ganz gleich, wie weit ich gehe, wie hoch ich steige, ganz gleich, wie viele Touren auf den Gletschern der Ötztaler Alpen ich noch unternehmen werde, nichts wird ihr Abschmelzen aufhalten. Mir bleibt nur, das zu genießen was noch da ist – voller Dankbarkeit. Gletscher sind, seit ich denken kann, die Orte meiner Sehnsucht und Verehrung. Nur selten empfinde ich sie als Gegner oder als feindselige Wildnis.

Wenn Kinderaugen leuchten

Ewiges Eis am Taschachferner - Ötztaler Gletscher
© Bernd Ritschel

Es klingt schon verrückt, aber wenn die Entwicklung so weiter geht, wird meine Tochter Clarissa, sie ist heute 16 Jahre alt, in 30, 40 oder 50 Jahren die Ostalpen mehr oder weniger eisfrei erleben. Niemals werde ich das Leuchten in ihren Augen vergessen, als sie das erste Mal in ihrem Leben einen Gletscher betrat. Frühmorgens war ich mit Andi und Marina als Begleitern vorausgestiegen, um im ersten Licht am Sulztalferner zu fotografieren. Meine Frau folgte mit Clarissa wenig später. Kurz nach Sonnenaufgang trafen wir uns am Gletscherrand. Vorsichtig berührten ihre kleinen Finger das Eis. Damals war sie neun Jahre alt. „Papa, darf ich da mal drauf steigen?“ Ich nahm sie an der Hand und drehte mit ihr eine Runde über das Eis. Clarissa war begeistert. Noch heute erzählt sie mir, wie eindrucksvoll dieser Morgen für sie war. Als ich letzten Sommer an gleicher Stelle stehen blieb, war dort kein Eis mehr. Der Sulztalferner hat sich in den wenigen Jahren um über 100 Meter zurückgezogen.

Was bleibt?

Natürlich werden sich die großen Gletscher der Westalpen noch einige Jahrzehnte länger halten. Aber ansonsten sollten wir jeden Moment auf dieser vergänglichen Materie so intensiv wie möglich leben und genießen.

Tja und für mich gilt, das was noch ist, mit der Kamera festzuhalten. So wild und schön, so eindrucksvoll und ästhetisch wie möglich. Für mich und die Nachwelt.

In die Berge - Ötztaler Gletscher
© Bernd Ritschel / Ötztal Tourismus

Info

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Gastautor Bernd Ritschel - Wildspitze Ötztal
© Bernd Ritschel

Gastautor Bernd Ritschel

Seit frühester Jugend lebt und liebt Bernd Ritschel die Bergwelt der Ötztaler Alpen. Er wurde 1963 im oberbayerischen Wolfratshausen geboren und lebt heute mit seiner Familie in Kochel am See. Seit mehr als 25 Jahren liegt ein Schwerpunkt seiner fotografischen Arbeit im Ötztal und den angrenzenden Bergregionen.

Mehrere Bildbände über die Ötztaler Alpen, viele Kalender, Ausstellungen, Poster und Postkartenserien spiegeln die Vielfalt und Leidenschaft seiner Fotografie in dieser Region wieder.

(Titelbild: © Bernd Ritschel / Ötztal Tourismus)

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